Der See der Literatur

Der Westsee (西湖) von Hangzhou ist seit Jahrhunderten eine Inspiration für Dichter, Maler und Schriftsteller. Das unberührte 49 Quadratkilometer große UNESCO-Weltkulturerbe ist mit Pagoden, Tempeln, Brücken, Inseln sowohl natürlichen als auch künstlichen übersät, die voller Mythen, Legenden und Geschichten sind.

Das Schicksal des Westsees begann in der Sui-Dynastie (581 - 618), als verschiedene Wasserstraßen in Ostchina zum sogenannten Großen Kanal verbunden wurden, wobei Hangzhou und der Westsee der südlichste Endpunkt waren.

Das wahre goldene Zeitalter des Westsees begann jedoch in der Südlichen Song-Dynastie (1127 - 1279), als Hangzhou, damals als Lin'an bekannt, von Kaiser Gaozong aus der Südlichen Song-Dynastie zur Hauptstadt ernannt wurde. Kaiser Gaozong widmete einen Großteil seiner Zeit der Planung der Architektur und Landschaftsgestaltung sowohl innerhalb der Kaiserstadt als auch in der Umgebung der Stadt. Der künstlerisch talentierte Kaiser beaufsichtigte den Bau einiger der prächtigsten Palastgebäude in Hangzhou, die eine so meisterhafte Ästhetik darstellen, dass sie die Architektur der Südlichen Song-Dynastie am besten repräsentieren.

Lin'an, die Hauptstadt der Südlichen Song-Dynastie befand sich im heutigen Hangzhou, zog talentierte Gelehrte, Schriftsteller und Künstler an, die viele traditionelle chinesische Landschaftsgemälde (Shanshuihua, 山水画) mit Seemotiven hervorgebracht haben. Maler und Dichter bemühten sich, die Schönheit des Sees einzufangen und die Harmonie zwischen Mensch und Natur darzustellen.

In dieser Zeit tauchte der Begriff „Zehn Ansichten des Westsees“ (西湖十景) auf. Diese Schönheit war damals noch kein touristisches Ziel, sondern eher Themen, die in der ästhetischen Tradition des 12. Jahrhunderts verwurzelt waren und die einige der besten literarischen und künstlerischen Werke der chinesischen Zivilisation inspirierten.

Als erste der zehn landschaftlichen Sehenswürdigkeiten gilt „Frühlingsmorgen am Su-Damm“ (苏堤春晓), ein Fußweg über den See, benannt nach dem Dichter und Beamten Su Shi (苏轼) aus dem 11. Jahrhundert. Während seiner Amtszeit in Hangzhou befahl Su Shi, den Westsee auszubaggern, um mehr als 200.000 Arbeitern Arbeit zu geben. Dadurch unterschied Su Shi Hangzhou von anderen Städten in ganz China und der Welt durch ihre fortschrittliche Urbanisierung — eine ausgewogene Verschmelzung von Natur und städtischem Leben.

Obwohl die Lin'an-Kultur während der Südlichen Song-Dynastie floriert, verlor diese Stadt ihren Platz als großartige Hauptstadt Chinas mit der Ankunft von Kublai Khans Armee im Jahr 1276. Aber diese Dynastie hinterließ ein Erbe von Architektur, Poesie und Kultur, das bis heute sichtbar ist. Dieses eroberte Reich wurde auch von Marco Polo besucht. Die neu gegründete Yuan-Dynastie (1206 - 1368) führte den Niedergang der Südlichen Song-Dynastie auf die Existenz des Westsees zurück und überließ ihn dem Zerfall.

Erst 1503, in der Ming-Dynastie (1368 - 1644), ist der Westsee durch einen Beamten namens Yang Mengying (杨孟瑛) gerettet worden. Yang führte umfangreiche Bagger- und Renovierungsarbeiten für den Westsee und die nahe gelegenen Sehenswürdigkeiten durch. Der berühmte Su-Damm wurde verstärkt und verbreitert, wobei Weiden- und Pfirsichbäume gepflanzt wurden. Ein weiterer Damm wurde parallel zum Su-Damm gebaut und trägt den Namen „Yanggong-Damm“ (杨公堤) oder „Lord Yang-Damm“ aufgrund der Leistungen von Yang Mengying. Heute können Sie auf diesem 3,4 Kilometer langen Weg spazieren gehen und unterwegs die Attraktionen am See besichtigen.

Die „Zehn Ansichten des Westsees“ verschwanden vorrübergehend mit dem Fall der Südlichen Song-Dynastie. Erst vier Jahrhunderte später interessierte sich Kaiser Kangxi aus der Qing-Dynastie (1616-1911) für den Westsee und verjüngte ihn mit Inschriften. Sein Enkel, der Kaiser Qianlong, schrieb auch jeweils ein Gedicht für die zehn Landschaften. Heute können Touristen ikonische Attraktionen wie den „Herbstmond über dem ruhigen See“ (平湖秋月) und den „schimmernden Sonnenuntergang über der Leifeng-Pagode“ (雷峰夕照, unter der die legendäre weiße Schlange unterdrückt wurde) besichtigen.

Heute ist der Westsee wieder wohlhabend und gut gepflegt. Er hat sich wieder zu einem der wichtigsten kulturellen und historischen Zentren Chinas entwickelt und ist eines der beliebtesten Reiseziele für Touristen.